Analyse der Skisprungsaison 2011/2012 by Mario Reiß

Heute gibt es einen Gastpost von meinem Schatz, der, was das Thema Skispringen angeht, unglaublich versiert ist und hier auch schon viele Kontakte mit Profis geknüpft und dadurch sein Wissen nicht nur durch theoretisches, sondern auch durch praktisches Wissen aus erster Hand erweitern konnte. Viel Spaß bei diesem ausführlichen Resümee über die heute leider zuende gehende Saison.



Liebe Freunde des Skispringens,

am heutigen Sonntag geht die Saison 2011/2012 in Planica zu Ende. In einem von Wind und Wetter beeinflussten Winter gab es insgesamt drei große Titel zu vergeben.
Die alljährlich stattfindende Vierschanzentournee konnte der Tiroler Gregor Schlierenzauer für sich entscheiden. Bei der Skiflug-WM in Vikersund triumphierte der für das Skifliegen geborene Robert Kranjec aus Slowenien und im Gesamtweltcup setzte sich, für mich vor dem Winter nicht für möglich gehalten, der Norweger Anders Bardal durch.

Welche Eindrücke nehmt ihr aus dem vergangenen Winter mit? Ich habe mich in den letzten Wochen und Monaten noch intensiver als jemals zuvor mit der Szene beschäftigt und möchte hier ein paar Eindrücke vermitteln, die ich gewonnen habe. Insgesamt ist es ein ziemlich kritischer Bericht, der auch zum Andenken anregen soll. Ich hoffe, dass es mir gelingt.

Seit einigen Jahren beginnt die Saison im finnischen Kuusamo. Die dortige HS142-Großschanze steht relativ ungeschützt und ist dem Wind damit ausgesetzt. Auch zum Weltcupauftakt herrschten wieder teils kräftige Winde, so dass es mehrere Verschiebungen gab, ehe die Saison eröffnet werden konnte. Für mich war das eine völlig normale und bekannte Situation; rückwirkend muss ich aber ehrlich zugeben, dass mindestens die Hälfte aller ausgetragenen (Einzel-)Springen irregulärer als das von Kuusamo gewesen sind. Leider hat sich der Einfluss von Wind und Wetter nahezu durch die ganze Saison gezogen. Mir fallen auf Anhieb nur wenige Wettbewerbe ein, die nahezu fair über die Bühne gegangen sind. Daher ist es auch nicht nötig, näher auf die Problematik des windigen Winters einzugehen. Außerdem nehmen nicht nur Wind und Wetter Einfluss auf die Wettbewerbe.
Vielmehr macht es Sinn, sich kritisch mit der Rolle des Teams um Renndirektor Walter Hofer auseinandersetzen.
Die Jury, der man sicher keine Schuld am Wetter geben darf, hat einen Großteil dazu beigetragen, dass die wenigen Wettkämpfe, die kaum den Windeinflüsse ausgesetzt gewesen sind, dennoch unnötig verzerrt wurden. Zudem muss man sich ernsthaft fragen, ob die Durchführung grenzwertiger Wettkämpfe wirklich im Sinne der Athleten ist. Hier gibt es eine ganze Menge Anhaltspunkte, die den Verantwortlichen zu denken geben sollten.

Beginnen möchte ich mit meinem Lieblingsthema, dem Windfaktor. Grundsätzlich halte ich die Einführung dieser Regel für äußerst sinnvoll. Sie ist im Sommer 2009 im Rahmen des "Sommer Grand Prix" erstmals getestet worden und sollte die Wettbewerbe kontrollierbarer machen. Im Winter 2008/2009 musste Gregor Schlierenzauer mehrmals seine Gesundheit riskieren, weil die Jury den Anlauf zu Beginn des Wettkampfes zu lang wählte und er wiederholt jenseits des Hill Size landete. Man wollte, falls der Anlauf zu lang ist, reagieren und die besten Springer schützen, ohne gleichzeitig den Wettkampf neu starten zu müssen. Zudem fiel der Szene auf, dass die Windeinflüsse in Verbindung mit dem immer sensibler werdenden Material zunehmend und einen immer stärker werdenden Einfluss auf die Wettkämpfe nehmen. Dem wollte man mit der Wind-/Gateregel entschieden entgegentreten und etwas mehr Fairness und Transparenz schaffen.

Aber wurde das im zurückliegenden Skisprungwinter tatsächlich geschafft? Meine Meinung möchte ich vorwegnehmen: "Nein!" Die Begründung muss natürlich etwas ausführlicher aussehen.
Die Windregel ist aktuell noch nicht ausgereift. Seitenwind wird gar nicht berücksichtigt, ist für die Springer aber fast wie Rückenwind zu sehen. Er stört das Flugsystem empfindlich und müsste definitiv mit Bonuspunkten im Windfaktor berücksichtigt werden. Zudem wird der durch Rückenwind entstehende Nachteil durch die Punktegutschrift nur unzureichend kompensiert.
Viele andere, wie ich finde wichtige, Faktoren spielen ebenfalls keine Rolle. Beispielhaft möchte ich hier das zunehmende Tempo des Springers während des Flugs nennen. Die Geschwindigkeit beim Absprung am Schanzentisch ist immer geringer als die Landegeschwindigkeit. Die Wirkung einer Windgeschwindigkeit von 1 Meter pro Sekunde wirkt im unteren (letzten) Flugdrittel also definitiv stärker als am Schanzentisch, weil der Springer schneller ist und den Wind anders spürt.
Im Allgemeinen bin ich mit der Gewichtung der Windpunkte in den jeweiligen Flugdritteln nicht einverstanden. Anschaulich wird das bei einer Analyse von Daiki Ito's Sprung im Einzelwettbewerb der Skiflug-WM (erster Durchgang). Ito hatte oben am Schanzentisch sehr starken Aufwind, der im Flugverlauf immer weiter abnahm. Er bekam, für diese nach der Windregel sehr guten Aufwindverhältnisse, massive Punktabzüge. Aber er hatte er wirklich einen Vorteil? Ich meine nein, denn er wurde am Schanzentisch stark gebremst, konnte das Tempo also nicht mitnehmen und fiel unten wie ein Stein zu Boden. Besser ist es für den Springer, wenn er oben nur keinen bis ganz leichten Aufwind hat und dieser umso mehr zunimmt, je weiter es Richtung Landebereich geht. Dann kann man das Tempo mitnehmen und den Flug unten ausfliegen. Ito hatte darauf keine Chance und wurde dennoch durch hohe Punktabzüge bestraft. Andere Springer hatten oben ruhige(re) Verhältnisse und nur unten Aufwind (meiner Meinung nach also optimal), bekamen durch die aktuelle Windregel aber deutlich geringere Abzüge, und konnten dennoch einen weiteren Sprung zeigen, weil sie eben das Tempo mitnehmen konnten, nicht so einen extrem hohen Lufstand hatten und den Flug bis zum Grenzbereich ziehen konnten. Bei der Skiflug-WM sind mir die Ungerechtigkeiten extrem aufgefallen. Zum Glück hat mit Robert Kranjec jemand gewonnen, der es kann und der es verdient hat.
Ich fordere: die Windregel muss überarbeitet werden und zwar dringend. Für mich als Skisprungverrückten, der ein Interesse an fairen Wettkämpfen und nachvollziehbaren Entscheidungen hat, fehlt hier eindeutig die objektive Gerechtigkeit. Ich bin häufiger live beim Skispringen dabei und werfe vor jedem Springer einen Blick auf die Windfahnen. Wenn ich mir dann die auf der Stadionleinwand eingeblendeten Windpunkte ansehe, muss ich oft den Kopf schütteln. Und an der Reaktion vieler anderer Zuschauer merke ich, dass ich mit meiner Meinung nicht alleine bin.

Des Weiteren möchte ich mich mit den häufigen Wechseln der Anfahrtsluke (Gatefaktor) innerhalb eines Durchgangs auseinandersetzen. Grundsätzlich sollte die neue Wind-/Gateregel dazu dienen, dass der Anlauf nur im Notfall verändert wird. Solche Notfälle gab es in der vergangenen Saison aber sehr oft. Man kann die Saison bei den inflationär betriebenen Veränderungen der Startluken, wenn man es etwas lustig sehen will, quasi als Notfallsaison auslegen. Wenn man es aber etwas nüchterner betrachtet, merkt man sehr schnell, dass die Wettkämpfe durch willkürliche Veränderungen der Startluken (negativ) beeinflusst worden sind.
Oftmals wurde der Anlauf verkürzt, obwohl ein Springer nichtmal in die Nähe des Hill Size gesprungen ist. Ein Notfall war hier nicht zu erkennen. Vielmehr musste der nachfolgende Springer mit kürzerem Anlauf und niedrigerer Anfahrtsgeschwindigkeit vom Balken gehen, was sich natürlich durch eine geringere Weite bemerkbar macht. Natürlich gibt es bei einer Verkürzung der Anlauflänge Bonuspunkte, aber werden die mit einer Verkürzung verbundenen Nachteile wirklich egalisiert? Ich glaube auch diese Frage mit "Nein" beantworten zu können. Man kann diese Verkürzung nicht mit einem mathematischen Faktor ausgleichen, denn a) ändert sich auch das Fahr- und Flüggefühl des Springers bei einer niedrigeren Anfahrtsgeschwindigkeit und b) hat jede Schanze einen Punkt, ab dem ein Vergleich nicht mehr fair ist. Vielleicht geht das bei Veränderungen von wenigen Gates aber wenn man z.B. in Gate 16 startet und am Ende bis auf Gate 4 mit dem Anlauf runter geht, dann gibt es meinetwegen + 35 Punkte, aber ob diese umgerechnet knapp 20 Meter Punktegutschrift wirklich den wahren Verlust des Anfahrtstempos ausgleichen, das bezweifel ich doch sehr und das zeigt sich auch in vielen Wettkämpfen. Je nach Schanze ist man mit der Punktegutschrift über- oder unterkompensiert.
Umgekehrt gilt das Prozedere natürlich bei einer Verlängerung der Anfahrtslänge. Auch hier gibt es eine Über- bzw. Unterkompensation.

In der letzten Saison hat die Jury zudem sehr oft zwischen den Durchgängen für einige Springer die Anfahrtsluke verändert (meistens verkürzt), um nur wenige Minuten später wieder zur alten Anfahrtsluke zurückzukehren. In diesem Fall wurden die Athleten, die aus der tieferen Luke starten mussten, quasi geopfert (und schieden nicht selten aus) und einer fairen Chance beraubt. Das war extrem unfair!
Hier fordere ich: Gatewechsel nur im Notfall, wenn jemand den Hill Size überspringt, wenn man einen überlegen Springer schützen möchte oder wenn sich die Windverhältnisse extrem verändern (wobei dann natürlich die Fairness darunter leiden wird). Dann kann man es als Zuschauer besser verstehen.

Die oben genannten Probleme werden durch die "Materialschlacht" im Skispringen weiter verstärkt. Besonders intensiv wird dieses Thema diskutiert, seitdem der Schweizer Simon Ammann zur Team-Tour vor der Olympiade 2010 mit einem gebogenen Bindungsstab anreiste. Ammann, natürlich auch ohne den Stab überragend in Form, war unschlagbar und der Konkurrenz deutlich überlegen. Zunächst gab es Diskussionen, ob diese "Wunderbindung" denn regelkonform sei. Im Skispringen ist sehr vieles, was das Material betrifft, eindeutig und zweifellos festgelegt, so dass die Athleten wenig Spielraum haben. Im Bereich der Bindung ist das nicht so.
Welche Effekte entstehen durch dieses neue Bindungssystem? Es gibt einen deutlichen Flächengewinn und man ist daher nicht mehr auf die maximale Skilänge angewiesen. Die im letzten Sommer eingeführte BMI-Erhöhung von 20,5 auf 21 wird so nicht wirksam, da die meisten Athleten ohnehin mit kürzeren Skiern und weniger Gewicht an den Start gehen.
Toni Innauer, für mich DER Experte des Skispringens, äußerte sich dazu wie folgt: "Die 2010 vorschnell zugelassene 'Klappbindung' beschert dem Skifliegen eine bedenklich gewachsene Abhängigkeit der Flugkurven und Sprungweiten von winzigsten Windbewegungen. Die Effizienz der Springer-Skisysteme ist explodiert und von der Jury kaum mehr kontrollierbar. Außerdem hat die Zulassung der neuen Bindungen zu einem weiteren Problem geführt: Die Athleten können die Skier so aerodynamisch günstiger positionieren und daher auf eine größere Skilänge verzichten. Dies führe dazu, dass zahlreiche Athleten den Mindest-BMI freiwillig unterschreiten."
Vielleicht kann man hier mit einer entsprechenden Änderung des Reglements zwei für mich wichtige Effekte erzielen:
1. Größere Chancengleichheit durch geringere Beeinflussungen bei noch so kleinen Windbewegungen
2. Einhaltung des vorgeschriebenen BMI bzw. spürbare Bestrafung bei dessen Unterschreitung, so dass der Athlet nicht in den Zielkonflikt kommt, dass weniger Gewicht durch eine Kompensation mit einem "besseren" Bindungssystem doch zu Vorteilen führt.

Zuletzt habe ich mir das Zusammenspiel von Medien und Sport angeschaut. Werden Springen, die durch unfaire Witterungseinflüsse geprägt sind, für das TV durchgedrückt oder geht die Jury auf die Interessen der Aktiven ein? Auch diese Fragen muss ich leider sehr kritisch beantworten.
In mir verstärkt sich seit Einführung der Windregel zunehmend der Eindruck, dass die Regel nach außen hin zum Schutz der Athleten und für eine größere Fairness verkauft wird, es für die Rennleitung aber ein willkommenes Mittel ist, die Wettbewerbe unabhängig von der Witterung durch zu drücken. Es gab so viele fragwürdige Wettkämpfe in der vergangenen Saison, dass ich diese Behauptung fast schon aufstellen muss.
Zwei Beispiele fallen mir dazu ad hoc ein. Bei der Vierschanzentournee in Innsbruck kam gegen Ende des zweiten Durchgangs eine Tiefwetterlage auf, die den für die Springer so ungeliebten Wind mit sich brachte. Miran Tepes funkte Walter Hofer noch an, dass man "wohl keine 5 Minuten" mehr habe und es jetzt schnell gehen müsse. Kurz darauf musste ein chancenloser Daiki Ito vom Bakken, der bei nur 91,5 Metern aufsetze und aller Tourneechancen beraubt wurde. Erst danach sah man ein, dass man warten muss, da den beiden Tourneeleadern Gregor Schlierenzauer und Andreas Kofler ein ähnliches Schicksal widerfahren wäre. Warum wartet man hier nicht direkt und verlängert den Durchgang eben um 10 bis 15 Minuten? Über den Funk konnte man als TV-Zuschauer heraus hören, dass es nach den Prognosen nur für diesen Zeitraum schlecht sein soll. Warum schickt man den armen Ito trotzdem runter? Sehr schade, wie ich finde! Mit Fairness und Chancengleichheit hat das nichts zu tun.
In Zakopane gab es die Situation, dass gegen Ende des ersten Durchgangs heftiger Schneefall einsetzte, der die Spur negativ beeinträchtigte. Auch hier wusste man in der Jury, dass der Schneeschauer nicht lange anhalten soll. Trotzdem wartete man nicht und drückte den Wertungsdurchgang durch. Die Top 10 im Weltcup wurden reihenweise vorgeführt und schieden wegen der wesentlich niedrigeren Anlaufgeschwindigkeit teilweise sogar aus. Thomas Morgenstern stürzte im Auslauf, in den schon viel Neuschnee gefallen war, blieb aber glücklicherweise unverletzt. Trotzdem hat man hier die Gesundheit der Springer riskiert.

Insgesamt muss man sicher beachten, dass der Terminkalender während des Winters sehr voll ist und die großen Fernsehanstalten neben dem Skispringen noch viele weitere Sportarten übertragen, aber müssen die festgelegten Sendezeiten gleich bedeuten, dass Wettkämpfe auch innerhalb des gesteckten Zeitfensters durchgebracht werden müssen, auch wenn es die Witterung nicht zulässt? Das TV kann immer noch entscheiden, ob es bei einer Verzögerung auf Sendung bleibt, oder ob es eben eine andere Sportart überträgt. Für den TV-Zuschauer ist das sicher schade, aber im Sinne des Sports sollte man hier mit etwas mehr Fingerspitzengefühl agieren und seine Prinzipien (Chancengleichheit, Schutz der Athleten, Sport steht im Vordergrund) wirklich ausleben und nicht nur kommunizieren.

Der Bericht klingt sehr negativ. Ich möchte aber ganz klar betonen, dass es einige schöne Wettkämpfe in der zurückliegenden Saison gab und dass die Jury auch sehr viel richtig gemacht hat. Sicher sind nicht alle Entscheidungen falsch gewesen und aufgrund des turbulenten Wetters war es teilweise nicht leicht; dennoch werde ich die Situation auch in der kommenden Saison kritisch betrachten. Natürlich in der Hoffnung auf besseres Wetter und bedachtere Entscheidungen des Teams um Walter Hofer.

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